Deutsche Regielegende: Was Ernst Lubitsch von #MeToo halten würde - WELT (2024)

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In den 80er-Jahren gab Billy Wilder Filmstudenten eine Aufgabe. „Stellen Sie folgende Situation in einem Film dar: ein dicklicher König, seine schöne Königin und ein fescher Leutnant. Wie zeigt man am elegantesten, dass Königin und Leutnant eine Affäre haben, und der König das entdeckt?“

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Die Studenten kamen mit Dutzenden von Lösungen – aber keine annähernd so elegant, wie sie Ernst Lubitsch 60 Jahre vorher in seinem Film „Der lächelnde Leutnant“ gefunden hatte. Dort verlässt der König das Schlafzimmer, der Wache stehende Leutnant schlägt die Hacken zusammen, und der König tapert die Treppe herunter – worauf der Leutnant ins Schlafzimmer schlüpft. Die Kamera bleibt vor der Tür und sieht den König zurückkommen, dem eingefallen ist, dass er Gürtel und Säbel vergessen hat. Auch er betritt das Schlafzimmer und tritt ein paar Sekunden später zufrieden wieder heraus. Seine Miene ändert sich erst, als er auf der Treppe bemerkt, dass der Gürtel für seine Taille viel zu eng ist.

Wir haben nichts gesehen, nur zwei Menschen, die durch eine Tür gehen. Keinen Sex, keinen Nebenbuhler unter der Bettdecke, keine lautstarke Konfrontation. Und doch ist alles erzählt. „How would Lubitsch do it?“, ein silbern gerahmtes Bild mit diesem Satz hing lange in Billy Wilders Büro in Los Angeles, eine ständige Herausforderung an sich selbst.

Zurück in Berlin

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Lubitsch (1892-1947) war als erster deutscher Regisseur von Hollywood abgeworben worden, schon ein Jahrzehnt bevor die Nazis Wilder in die Emigration zwangen. Beide waren Juden, beide kamen aus Berlin, und dort hängt jetzt „How would Lubitsch do it?“ im Museum für Film und Fernsehen. Auch Lubitsch ist dort wieder angekommen, größtmöglich, mit der „1. Internationalen Lubitsch-Konferenz“ im Babylon-Kino an diesem Wochenende: ein Dutzend Vorträge und ein Dutzend Filme, fast alles ausverkauft.

Slavoj Žižek, allgegenwärtiger Philosoph und Kunstkritiker, hat für diese Konferenz nun die Wilder-Frage variiert: „Wie würde Lubitsch unsere Gegenwart wahrnehmen?“, angesichts von „#MeToo“-Debatten und politischer Korrektheit. „Natürlich wäre er von dem populistischen Neorassismus angewidert“, beginnt Žižek seine Babylon-Vorlesung, „aber er hätte auch sofort die Falschheit von dessen Widerpart durchschaut, des politisch korrekten Moralismus. Er hätte beide als geheime Komplizen aufgefasst.“

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Lubitsch wäre entsetzt darüber gewesen, so Žižek, wie die „perversen Vergnügen der Unzüchtigkeiten, ja selbst der Ironie, von der Rechten mit Beschlag belegt worden sind“ – während sich die Linke mehr und mehr in einem jämmerlichen asketisch-puritanischen Moralismus verfange. Und er folgert: „Das bedeutet nichts anderes, als dass es keine Erneuerung der Linken ohne den Lubitsch-Touch geben kann.“

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Der Lubitsch-Touch. Wie viele Regisseure haben sich an seiner Imitation versucht, wie viele Kritiker an einer Definition! Eine der beliebtesten Erklärungen ist die Nichterklärung: Es geht bei Lubitsch um das, was nicht gezeigt, nicht gesagt, nicht gehört wird. Oder wie es ein verzweifelter Zensor einst formulierte: „Du weißt, was er sagt, du kannst nur nicht beweisen, dass er es sagt.“

Nie geht Lubitsch den offensichtlichen Weg. Lieber pickt seine Kamera ein vielsagendes Detail heraus, sodass ein süßes Nichts zum Symbol eines hochwichtigen Ereignisses wird. In seinem Meisterwerk „Ärger im Paradies“ umarmen sich die Diebeskomplizen Lily und Gaston und sinken auf ein Sofa. Ein normaler Film hätte sie sich nun darauf wälzen lassen (oder abgeblendet). Lubitsch macht eine Überblendung, an deren Ende nur noch das leere Sofa zu sehen ist. Nichts ist zu sehen, nichts zu hören, das leere Sofa genügt. Suggestion ist alles. Es geht nicht primär um Sex, sondern um die Umwege, die ihn zuvor erotisieren.

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Lubitsch-Heldinnen sind, Jahrzehnte vor der Women’s-Liberation-Bewegung, komplett emanzipiert. „Die weibliche sexuelle Befreiung ist mehr als der Rückzug vom zum Objekt für Männer Gemachtwerden“, definiert Žižek. „Es ist das Recht, sich aktiv selbst zum Objekt zu machen, damit zu spielen und sich jederzeit davon wieder zurückzuziehen – selbst wenn das vorher gegebenen ,Signalen‘ widersprechen sollte.“

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Der Aufstieg der politischen Korrektheit und der Anstieg von Gewalt seien zwei Seiten derselben Münze, denn: Die Grundlage der Korrektheit sei die Reduzierung von Sexualität auf gegenseitiges Einverständnis per Vertrag. „Die einzige Form einer sexuellen Beziehung, welche die Korrektheitskriterien vollständig erfüllt“, giftet Žižek, „wäre ein Kontrakt wie zwischen den Partnern einer sadomasoch*stischen Beziehung“. In solchen Formen konsensualer Sklaverei führe sich die Vertragsfreiheit ad absurdum: „Die Teilnahme am Sklavenhandel wird zur ultimativen Behauptung von Freiheit.“

Lubitsch wäre ob eines solchen Zustands des Zwischenmenschlichen entsetzt gewesen, der strikten Verrechtlichung wegen, nicht wegen der Abweichung von der bürgerlichen Moral. Zum Beispiel gibt es bei ihm nicht die übliche Hollywoodwahl, dass man nur entweder Liebe oder Sex haben kann. Und für den Sex braucht es nicht nur keine Heiratsurkunde, selbst lieben müssen sich die Sexhabenden nicht, wie 1932 in „Ärger im Paradies“. Ein Jahr später, in „Serenade zu dritt“, stellt Lubitsch die herrschende Moral vollends auf den Kopf: Die Künstlerin Gilda lebt in einer stabilen Ménage-à-trois mit George und Thomas, versucht es dann mit einem gefährlichen Experiment, mit Monogamie – und kehrt reuevoll ins Dreiernest zurück.

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Zum Schluss imaginiert Žižek eine leicht veränderte Szene aus Lubitschs „Der Himmel kann warten“, wo ein Lebemann in die Hölle kommt und vom Teufel verhört wird. Der Lebemann gesteht viele kleine Sünden, doch der Teufel bedauert, das reiche nicht für eine Aufnahme bei ihm, er solle sich im Himmel bewerben.

„Stellen wir uns eine Szene vor, in der Lubitsch von einem bolschewistischen Kommissar verhört wird, wie Greta Garbo in ,Ninotschka‘, der entscheiden muss, ob Lubitsch in den Gulag kommt.“ Weil er wisse, wie das ablaufe, spinnt Žižek die Geschichte weiter, gestehe Lubitsch eine Menge kleinbürgerlicher Sünden, bis der Kommissar abwinke und ihm einen Posten in der Hierarchie der kommunistischen Partei zuweise.

Und nun, als Schlussgag, zieht Žižek eine Parallele zwischen Lubitsch und Lenin. Letzterer habe bekanntlich Stalin als seinen Nachfolger zu verhindern versucht; der sei zu grob, eine Schwäche, die ihn als Generalsekretär untauglich mache.

Dieses Wertlegen auf Höflichkeit, Schicklichkeit und Humor sei ein Wesensmerkmal des Lubitsch-Touches – und des untergegangenen konservativen Bürgertums. Vulgäre Wortwahl sei heute ein fast ausschließliches Vorrecht der radikalen Rechten, „und die Linke findet sich in der sie überraschenden Position eines Verteidigers anständiger öffentlicher Manieren wieder.“ Wenigstens dieses hätte Lubitsch am Heute gefallen.

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